Sehnsucht nach Wildnis
Ein neuer Trend?
Wir Menschen haben ein gespaltenes Verhältnis zur Wildnis. Im Lauf der Jahrtausende verwandelten wir die als feindselig empfundene Natur Stück für Stück in nützliches Kulturland. Urwälder und gefährliche Tiere verschwanden, Moore wurden trocken gelegt und Flüsse gebändigt. Nachdem nun endlich alles begradigt und gezähmt ist, erscheint die Wildnis etwas romantisiert fast wie das verlorene Paradies.
Stand:
Wildnis, ein positiv besetzter Kulturbegriff

Wildnis ist ein Kulturbegriff, der sich einer exakten naturwissenschaftlichen Definition widersetzt. Deshalb existieren auch ganz unterschiedliche, subjektive Vorstellungen von Wildnis. Mal wird sie als bedrohlich, mal als rein und unverfälscht wahrgenommen.Erklärt werden kann Wildnis letztlich nur als Gegensatz zum Kulturland.Während das Kulturland vom Menschen zu einem bestimmten Zweck geformt und gestaltet wird, bleibt die Wildnis sich selbst überlassen, kann sich im Idealfall völlig frei nach den Gesetzen der Natur entfalten. Diese Betrachtungsweise ist allerdings sehr anthropozentrisch. Denn Tiere verändern ihre Umwelt ebenfalls, teilweise sogar sehr massiv. Außerdem ist der Mensch genauso ein Teil der Natur. Warum sollte sein Einfluss also automatisch unnatürlich sein?
Eine 2013 vom Bundesamt für Naturschutz durchgeführten Studie zum Naturbewusstsein stellte fest, dass fast zwei Dritteln der Deutschen Wildnis als etwas Positives betrachten. Sie wünschen sich eher mehr Wildnis als weniger. Die große Sympathie für die unberührte Natur entstammt einer Sehnsucht, die auf das Zeitalter der Romantik zurückgeht. Die Verklärung der ungezähmten Natur entsprang damals zunächst einer kleinen intellektuellen Elite, die sich diesen Luxus leisten konnte. Wer, der Unbill von Wind und Wetter ausgesetzt, harte Feldarbeit verrichten musste, sah das logischerweise anders. Heute, wo wir überwiegend in künstlichen Welten leben und arbeiten, stellt die Wildnis einen willkommenen Ausgleich dar, um dort die Freizeit zu verbringen.
Primäre Wildnis und Urwaldrelikte
Völlig unberührte primäre Wildnis gibt es in Mitteleuropa praktisch nicht mehr. Dass wir überhaupt noch einen Hauch von Wildnis erleben können, verdanken wir den Alpen und den Mittelgebirgen, die sich an einigen unzugänglichen Orten gegen unsere Eingriffe sperren.Es ist ein großes Glück, dass an einzelnen versteckten Stellen in den Gebirgsregionen noch so genannte Urwaldrelikte existieren.Doch selbst diese sind nicht völlig frei von menschlichem Einfluss. Denn auch ohne forstwirtschaftliche Nutzung verändern wir die Urwaldrelikte indirekt. So wird die Waldverjüngung beispielsweise durch das Verschwinden von Raubtieren und einen hohen Wildbestand beeinträchtigt, weil junge Bäume verbissen werden. Klimawandel, Umweltverschmutzung und Artensterben machen natürlich auch vor den letzten Wildnisreservaten nicht halt.
Sekundäre Wildnis

Die gute Nachricht ist, dass die Natur eine gewaltige Regenerationskraft besitzt und Wildnis auch wieder neu entstehen kann. Das zeigt sich an nutzungsfreien Wäldern, renaturierten Flüssen und in wiedervernässte Moore. Ja selbst eine Wildblumenwiese am Straßenrand oder im eigenen Garten ist schließlich ein Stück Wildnis.
Bei der sekundären Wildnis sollte es nicht darum gehen, einen bestimmten Urzustand wiederherzustellen oder unsere möglicherweise idealisierte Vorstellung von Wildnis zu verwirklichen. In der Praxis fällt es allerdings sogar Naturschützern schwer, der Natur einfach ihren freien Lauf zu lassen. Solange sich diese an das ausgearbeitete Konzept hält, ist alles gut. Aber sobald sich ein Neophyt einnistet, eine Art überhandnimmt oder andere zu verdrängen droht, wird dann doch regulierend eingegriffen. Eine echte Sonderstellung nehmen nur die Kernzonen der Nationalparks ein. Im Bayerischen Wald ließ man sogar den Borkenkäfer ungehindert wüten. Und siehe da, der Wald regenerierte sich anschließend unerwartet schnell.
Ein echter Baumeister der Wildnis ist der Biber. Eben noch war er vom Aussterben bedroht. Doch kaum hat sich der Bestand des streng geschützten Tiers stabilisiert, sehen einige in ihm bereits eine Bedrohung für wertvolle Bäume. Tatsächlich schädigen oder fällen Biber viele Bäume. Wer deshalb aber gleich fordert, den Biberbestand zu regulieren, sollte sich zuerst einmal darüber informieren, welchen Raubbau wir Menschen eigentlich an den Wäldern betreiben und wie wir sie durch den Klimawandel zerstören.
Kulturland ist oft artenreicher und bedrohter

Gezähmtes Kulturland kann aus ökologischer Sicht unter Umständen schützenswerter sein als die sich selbst überlassene Wildnis. So werden beispielsweise Streuwiesen und Buckelwiesen weiterhin gemäht, obwohl sie keinen landwirtschaftlichen Nutzen mehr besitzen. Die Mahd verhindert das Verbuschen der Wiesen und erhält somit ihren Artenreichtum.
Echte Almen abseits der Touristenströme können heute kaum mehr ökonomisch betrieben werden. Deshalb werden sie mit Fördermitteln unterstützt. Ohne das Vieh würden die Weideflächen unterhalb der Baumgrenze mit der Zeit zuwachsen. Aus Naturschutzgründen ist es unerwünscht, dass sich die Wiesen und Almweiden wieder zur Wildnis zurückverwandeln, denn das würde die biologische Vielfalt in der Gegend verringern.
Gewachsenes Kulturland und Wildnis werden gleichermaßen von der modernen Industrielandschaft bedroht. Mit immer neuen Straßen, Industriegebieten, Reihenhaussiedlungen, Solarparks und Maisfeldern frisst sie die einst kleinteilige, artenreiche Kulturlandschaft auf.Der Flächenverbrauch ist eines unserer größten Umweltprobleme.2017 betrug der tägliche Flächenfraß in Bayern 11,7 Hektar. Das Problem ist seit Langem bekannt. Bereits 2003 wurde von der Politik das Bündnis zum Flächensparen gegründet. Seitdem werden fleißig Zahlen gesammelt und Statistiken erstellt. Trotz vieler guter Vorsätze verbesserte sich bislang nichts. Solange es die Politik bei Empfehlungen belässt und sich nicht zu verbindlichen Regelungen und gesetzlichen Vorgaben durchringen kann, wird sich daran wohl kaum etwas ändern.
Am Wolf scheiden sich die Geister
Zu einer echten Wildnis gehören zweifellos die großen Beutegreifer wie Luchs und Wolf. Die Mehrheit der Deutschen sieht die Rückkehr des Wolfs positiv. Vor allem Naturschützer freuen sich darüber. Aus konservativen Kreisen, von Seiten der Jäger und Landwirte wird dagegen Stimmung gegen den Wolf gemacht. Während Jäger ihn als Konkurrenten betrachten, der ihnen die Trophäenjagd erschwert, fürchten Landwirte um ihr Vieh.
Die Wolfgegner bedienen alte Urängste und beschwören Schreckensszenarien herauf. Dabei greifen Wölfe nur extrem selten Menschen an, während allein durch Hundebisse jedes Jahr mehrere Menschen sterben. Auch mit Pferden und Rindern kommt es immer wieder zu tödlichen Unfällen.
Der Nutzen von Wolfsrudeln überwiegt in jedem Fall. Die Mehrkosten, welche durch Wolfszäune oder Entschädigungen für Landwirte entstehen, sind verkraftbar. Wölfe können den stetig wachsenden Wildbestand eindämmen. Schalenwild verursacht enorme Schäden durch Verbiss und beeinträchtigt die Waldverjüngung. Für ein natürliches Gleichgewicht im Ökosystem Wald ist der Wolf unverzichtbar.
Wildnis wird zum Freilichtmuseum

Wildnis ist in Deutschland so selten geworden, dass sie musealen Charakter hat. Immer öfter heißt es Betreten verboten
. Die Besucher könnten ja eine seltene Blume zertreten oder einen gefährdeten Vogel beim Brüten stören.
Das Isartal zwischen Wallgau und Vorderriß gilt als letzte Wildflusslandschaft der Bayerischen Alpen. Durchwandert werden darf das wunderschöne Tal einzig auf einer öden Kiesstraße. Bei Missachtung des strengen Wegegebots drohen hohe Geldbußen.
Manche Gebiete sind sogar komplett gesperrt, wie das einzigartige Achendelta bei Übersee am Chiemsee, das in ganz Mitteleuropa seinesgleichen sucht.
Kaum ein Moor kann heute noch frei betreten werden. Bestenfalls gibt es einen Lehrpfad, an dem die Bäume, Sträucher und Kräuter wie die Ausstellungsstücke eines Museums mit Schildern versehen sind.
Sicher hat das alles seine Berechtigung. Doch wenn die wilde Natur nur mehr eine Art museales Relikt aus einer fernen Vergangenheit darstellt und nicht mehr ohne Weiteres durchstreift werden darf, entfremden wir uns noch weiter von ihr. Der Boom der Outdoorbranche, die Nachfrage nach Wildniscamps oder die Bushcraft-Bewegung zeigen, dass es durchaus ein Bedürfnis nach unverfälschter, wilder Natur gibt.Wildnis muss unbedingt zugänglich und erlebbar bleiben.Positive Natur- und Wildniserfahrungen sensibilisieren für ihren Wert, was letztlich ihrem Schutz dient. Dass die Deutsche Wildtierstiftung Kindern auf Basis einer von ihr beauftragten Emnid-Umfrage eine erschreckende Naturferne attestiert, sollte uns eine Warnung sein. Auch der medial herbeigeredete Wanderboom existiert so wohl nicht, vor allem nicht bei der jungen Generation. Aber wen wundert es, wenn das wanderbare Land immer weniger wird.
Wildnisgebiete in Deutschland und Bayern

Damit wir die Möglichkeit haben, die freie Natur mit allen Sinnen zu erfahren, brauchen wir eindeutig mehr Wildnisgebiete. Nach der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt sollten bis 2020 eigentlich zwei Prozent der Fläche Deutschlands zu Wildnisgebieten werden. Leider wurde das ohnehin recht bescheidene Ziel weit verfehlt. Derzeit liegt der Wildnisanteil bei lediglich 0,6 Prozent. Genug Fläche in Staatsbesitz gäbe es. Es kann also nur am fehlenden politischen Willen liegen.Das Nonplusultra für mehr Wildnis sind Nationalparks.Gerade Bayern könnte hier als großes Flächenland deutlich mehr tun. Die Suche nach dem Standort für einen dritten bayerischen Nationalpark verlief im Sande. Die übliche Allianz aus Waldbesitzern, Landwirten und Jägern, die meist eng mit der Lokalpolitik verwoben sind, stellte sich quer. Dabei wären fast zwei Drittel der bayerischen Bevölkerung für einen weiteren Nationalpark. Bei umstrittenen Straßenbauprojekten ignoriert die Politik die Bürgerproteste oftmals, doch beim Nationalpark geht sie vor den Widerständen einer kleinen Minderheit ängstlich in Deckung. Viele gerettete Landschaften mussten einst mühsam gegen Politik und ökonomische Interessen erkämpft werden. Leider scheint sich daran nicht wirklich etwas zu ändern.
Wenigstens wird in Bayern inzwischen der umfangreiche Staatswald Stück für Stück der Nutzung entzogen, damit er sich zur Wildnis zurückverwandeln kann. Schließlich gehört er der Bevölkerung und sollte ihr Raum für Naturerfahrung bieten.
Leider wogen lange Zeit die wirtschaftlichen Interessen der Holzindustrie, vor allem aber die vom Gesetzgeber gewollte Gewinnorientierung der Bayerischen Staatsforsten stärker. Naturschützer und Anwohner beklagten immer wieder, dass Wälder regelrecht geplündert würden. Ein bekanntes Beispiel dafür sind die wertvollen Buchenwälder im Steigerwald.
Doch mittlerweile hat ein Umdenken eingesetzt. Der bayerische Staatswald muss von den Bayerischen Staatsforsten nicht mehr gewinnorientiert bewirtschaftet werden. Im Jahr 2020 schrieb das Unternehmen wegen des Waldumbaus erstmals rote Zahlen. Zukünftig soll der Staatswald primär dem Klimaschutz und der Biodiversität dienen. Wenn das nicht eine gute Nachricht für die Wildnis ist, auch wenn das den dritten Nationalpark natürlich nicht ersetzen kann.